Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht dokumentiert eine dramatische Zunahme von Armut – das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hält die Zahlen sogar noch für geschönt
Eines der wichtigsten Ergebnisse der rot-grünen Regierung ist drei Jahre nach deren Ende amtlich: Die Kluft zwischen Armen und Reichen hat sich weiter vertieft. Vor allem Langzeiterwerbslose, Geringqualifizierte und Alleinerziehende mit ihren Kindern sind Opfer der anhaltenden Umverteilungspolitik. Demnach müssen inzwischen 13% aller in Deutschland lebenden Menschen unterhalb der Armutsgrenze existieren. Das ist jede/r achte Bundesbürger/in. Weitere 13% überspringen nur aufgrund von Transferleistungen diese Schwelle. Das heißt, ohne staatliche Hilfe wie Arbeitslosen-, Kinder- oder Wohngeld, sind insgesamt 26% oder jede/r Vierte von Armut betroffen oder unmittelbar bedroht. Das geht aus dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht hervor, den die amtierende Koalition vorgelegt hat.
Es ist der dritte Armuts- und Reichtumsbericht seiner Art. Die Vorgängerstudien stammen aus den Jahren 2001 und 2003. Die aktuelle Erhebung erstreckt sich über den Zeitraum der Jahre 2002 bis 2005 und schließt damit die Anfangsphase der sogenannten Arbeitsmarktreform ein. Die Folgen, etwa im Bereich der Hartz-IV-Gesetzgebung und deren Auswirkungen für Langzeiterwerbslose, sind im Rahmen der Erhebung jedoch nicht berücksichtigt.
Zunehmende Gefahr des sozialen Abstiegs
Basierend auf Daten aus dem Jahr 2005 gelten 1-Personen-Haushalte als arm, wenn diese über weniger als 781 Euro pro Monat verfügen. Bei 2-Personen-Haushalten sind es 1172 Euro und bei einem vierköpfigen Haushalt liegt die Armutsschwelle bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1640 Euro. Die Grenzen ergeben sich aus dem sogenannten Median-Wert. Dieser entspricht 60% des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht lag die Armutsgrenze noch wesentlich höher: 2003 lag die Schwelle bei 938 Euro für Single-Haushalte. Der Grund für die veränderte Bemessungsgrundlage liegt im rapiden Absinken der Einkünfte im mittleren und unteren Einkommenssegment.
Armutsrisiko trotz Erwerbstätigkeit
Die Reichtumsgrenze überschreitet, dessen Einkommen doppelt so hoch wie das durchschnittliche Gehalt in der Bevölkerung ist. Demzufolge gelten 1-Personen-Haushalte, die im Monat mehr als 3268 Euro netto beziehen, als reich. Für eine vierköpfige Familie liegt die Grenze bei 8863 Euro netto. Diesen Wert erreichen nur 6,4% der Bevölkerung.
Auch in der Einkommensverteilung haben sich in den vergangenen Jahren gravierende Verschiebungen vollzogen. Während der Anteil der Besserverdienenden, die mehr als 150% des Durchschnittseinkommens beziehen, zugenommen hat, stieg gleichzeitig auch die Zahl der Geringverdienenden an. So ist ein besonderer Anstieg bei denjenigen zu verzeichnen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und trotzdem von Armut betroffen sind. In Zahlen ausgedrückt: Die durchschnittlichen Bruttolöhne sind im Untersuchungszeitraum um 4,7% von jährlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro gesunken. Hierbei ist die Inflationsrate nicht berücksichtigt. Insgesamt blieben 2005 die Einkünfte aus unselbstständiger Arbeit von mehr als einem Drittel der Beschäftigten unter der Niedriglohn-Schwelle. Anfang der 90er Jahre war dies noch bei nur rund einem Viertel der Arbeitnehmer/innen der Fall.
Eine weitere Risikogruppe, die besonders von Armut bedroht ist, sind Erwerbslose mit Kindern. Die Armutsquote von Haushalten mit Kindern, in denen beide Eltern erwerbslos sind, liegt bei 48%. Von den vollzeitbeschäftigten Paaren befindet sich mit 8% immerhin fast jedes zehnte Doppelverdiener-Paar mit dem verfügbaren Haushaltsbudget unter der Armutsgrenze.
OECD beklagt Doppelbelastung unterer Einkommen
Über die Realeinkommensverluste hinaus zählt die Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland im mittleren und unteren Einkommensbereich nicht nur international zur Spitze, sondern gehört zu den Hauptursachen für das steigende Armutsrisiko. Dies hat eine im Herbst 2007 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) veröffentlichte Studie ergeben. Darin werden insbesondere die hohen Sozialversicherungsbeiträge der genannten Einkommensgruppen kritisiert. Seit den 70er Jahren sind diese von 27% auf rund 40% angestiegen. Mit der Folge, dass Durchschnittsverdiener nach Abzug von Steuern und Abgaben nicht einmal mehr über ein Einkommen verfügen, das dem steuerlichen Existenzminimum entspricht. Nach einer Modellrechnung bleibe einer vierköpfigen Familie bei einem Jahreseinkommen von 30.000 Euro nach Abzug aller Steuern und Abgaben inklusive Kindergeld lediglich 24.000 Euro.
Doch auch in der Einkommensteuer zeigt sich eine Schieflage. Weil die Einkommensgrenzen – im Unterschied zur Praxis in zahlreichen anderen Ländern – nicht regelmäßig an die Inflation angepasst werden, rutschen immer größere Teile der Bevölkerung in den Spitzensteuersatz. Ursprünglich griff der Höchststeuersatz erst bei einem Einkommen, das 20 Mal höher war als das Durchschnittseinkommen. Heute ist dies bereits beim 1,4-fachen Durchschnittseinkommen der Fall.
Kritik am Kriterienkatalog
Über die insbesondere vonseiten des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Wohlfahrtsverbände formulierte Kritik an den alarmierenden Ergebnissen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts hinaus, gehen Experten sogar noch einen Schritt weiter und bezweifeln die Vollständigkeit des vorgelegten Zahlenwerks. Während sich die große Koalition auf die Statistik des sogenannten EU-Silc aus dem Jahr 2006, eine europaweit standardisierte Erhebung zu Einkommen stützt, verzeichnen die renommierten Erhebungen, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Längsschnittstudie des sozio-ökonomischen Panels des DIW), das wesentlich präzisere Indikatoren zugrunde legt, einen deutlich höheren Anstieg der Armutsquote. Das DIW hat – für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – errechnet, dass die Armutsquote zwischen den Jahren 2000 und 2006 von 11,8 auf 18,3% angestiegen sei. Diese Zahl fehle aber in den Eckpunkten des Armutsberichts. Die vorgelegten Zahlen seien, so das DIW in einer Stellungnahme, „eine zu kurz geratene Auswahl der Fakten“.
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